Chancen und Risiken von Castingshows für Jugendliche

am Beispiel von "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS)


 

Castingshows besitzen zurzeit höchste Aktualität und sind nicht mehr wegzudenken aus der Medienwelt. Der Schwerpunkt liegt auf Musik-Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ (bekannt unter dem Akronym DSDS). Das System basiert auf der Entdeckung unbekannter Musiker. Hierfür werden junge Menschen mit dem entsprechenden Talent gesucht, geschult und ausgewählt. Dieser Auswahl- und Fortbildungsprozess hat für die Zuschauer aus verschiedenen Gründen eine hohe Attraktivität. Insbesondere junge, nicht professionell geschulte Kandidaten haben für die Medienkonsumenten hohen Gebrauchswert, bieten Kindern und Jugendlichen u. a. Entlastung, Chancen der Selbstdefinition und Orientierung (u. a.Götz, M. 2013, S. 141), aber bringen auch einige Unklarheiten, Unsicherheiten und Gefahren mit sich. Viele Jugendliche ab 16 Jahre waren schon selbst Teilnehmer einer Castingshow oder träumen davon, eines Tages die öffentliche Aufmerksamkeit zu genießen. So haben Castingshows sich zu „einer Schule der Nation“ (Pörksen, B./Krischke, W. 2012, S. 23) entwickelt und konfrontieren ständig Teilnehmer und Zuschauer mit der schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie (ebd., S. 20): Ich will stattfinden! – so lautet die Kurzformel der Castingshow-Gesellschaft (ebd., S. 16)…

 

Unter „Castingshow“ versteht man ein Auswahlverfahren mit Showeffekten im Fernsehen. Der Begriff „Castingshow“ setzt sich aus „Casting“ und „Show“ zusammen. „Casting“ enthält Informations- und Kommunikationselemente. „Show“ beinhaltet Emotion und Unterhaltung. Eine Show findet in der Regel vor Publikum statt und wird – als Unterhaltungsprogramm – im Fernsehen übertragen. Somit ist eine Castingshow nicht nur eine Unterhaltungsshow für Publikum bzw. Zuschauer, sondern ein Bildungsprozess für alle Beteiligten. Castingshow-Kandidaten versuchen zwar ihr Talent zu präsentieren, aber gleichzeitig auch sich durch die individuelle Leistung und kritische Reflexion weiterzubilden, so dass sie evtl. das Casting gewinnen bzw. ihre eigenen Fähigkeiten auf ein höheres Niveau bringen...

 

DSDS ist eine deutsche Version der britischen Sendung Pop Idol (Appen, R.v. 2005) und wird vom Produktionsunternehmen GRUNDY Light Entertainment GmbH in Köln produziert und seit 2002 vom Fernsehsender RTL ausgestrahlt. Potenzielle „Superstars“ bzw. Talente werden durch Massencastings – an denen in der Regel mehrere Tausend Anwärter teilnehmen – entdeckt. Bestandteil der DSDS-Castingshow ist es, dass die jungen Teilnehmer ihre musikalischen Talente bzw. Fähigkeiten einer Jury aus Prominenten präsentieren und durch deren fachliche Kritik in die nächste Runde kommen oder aus der Show ausscheiden. Auf diese Weise wird die Zahl der Casting-Teilnehmer verringert, bis eine „besttalentierte“ Gruppe von Teilnehmern zusammengestellt ist, aus der heraus ein Gewinner ermittelt wird. Der Gewinner der DSDS-Castingshow erhält einen Plattenvertrag, 500.000 Euro als Startkapital und hat die Möglichkeit, durch Popularität und Präsenz eine Karriere aufzubauen.

 

Wer als potenzieller Gewinner der DSDS-Castingshow auf der Bühne stehen und sein Talent unter Beweis stellen möchte, sollte bei der Bewerbung nicht jünger als 16 und nicht älter als 30 Jahre alt sein. Durch Bewerbungen werden Kandidaten ermittelt, deren Anzahl in sogenannten „Recalls“ durch Urteile der Jury reduziert wird. Die verbleibenden zehn Kandidaten der Qualifikationsrunden treten in „Motto-Shows“ auf und werden nach jedem Auftritt von der Jury beurteilt. Wichtige Kriterien sind nicht nur der Gesang, sondern u. a. Kleidung, Aussehen, Bühnenpräsenz und Ausstrahlung. Ab den Motto-Shows rückt die Auffassung der Jurymitglieder in den Hintergrund, da die Entscheidung über das Weiterkommen der Teilnehmer und den späteren Sieger per Telefonabstimmung den Zuschauern zufällt. Dabei ist anzumerken, dass die Altersspanne der Zuschauer – obwohl hohe Einschaltquoten durch Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 14 und 29 Jahren zustande kommen ( Lünenborg, M. & Töpper, C. 2011)  – nicht nur junge Zuschauer umfasst. Auch viele Erwachsene und Senioren schauen regelmäßig die Sendung an. Dabei werden Jugendliche durch das Zuschauen der Castingshows zum Mitmachen animiert. So wechselt eine steigende Zahl junger Bürger von der Zuschauer- in die Teilnehmerrolle, macht Erfahrung mit Bühnenpräsenz und schafft es einen kurzen Moment lang, die Aufmerksamkeit eines Millionenpublikums auf sich zu ziehen (Pörksen, B./Krischke, W. 2012). Beide Gruppen – Teilnehmer und Zuschauer – finden bei der DSDS-Castingshow das, wonach sie suchen: Unterhaltung und Wissen. Und obwohl Castingshows keine Wissenssendungen sind, können die Zuschauer und Teilnehmer durch das Format lernen, indem sie nach Wunsch selbst medial stattfinden. Jeder bekommt die gewünschte Aufmerksamkeit; Teilnehmer durch Auftritte, Zuschauern durch das Televoting; die Jury durch ihr auffallendes Verhalten gegenüber Teilnehmern und Zuschauern. Jeder ist Unterhalter und Unterhaltung. So wird aus einer Show noch eine Show gemacht (Pörksen, B./Krischke, W. 2012, S. 16-17). Das heißt, eine solche Show wird detailliert konzipiert, um Zuschauer und Teilnehmer gleichzeitig zu erreichen. Die wichtigste Formel lautet: „Die Realität ist nicht per se interessant.“ Deshalb versucht man durch Castingshows nicht nur Talente zu entdecken, sondern auch die Geschichten, die evtl. Konflikte und Differenzen zwischen den teilnehmenden Personen provozieren und Zuschauer unterhalten. Interessant ist nicht der Regelfall – etwa ein Junge aus gutem Hause mit perfekt ausgebildeter Stimme –, sondern die Besonderheit mit möglichst auffallender Lebensgeschichte: schwere Kindheit, ungewöhnliche Erfahrungen, ausgefallener Lebensstil usw. Darüber hinaus geht es noch um die Fragen, wie die Kandidaten z. B. mit der Kritik von Jurymitgliedern – u. a. Dieter Bohlen – umgehen (Hajok, D./Selg, O. 2012, S. 9-10). Aus pädagogischer bzw. bildungswissenschaftlicher Sicht ist die sogenannte „Schule“ ziemlich umstritten und polarisiert. Einerseits seien Medien-Figuren wie Dieter Bohlen Identifikationsfiguren und müssten deshalb ihr Verhalten gegenüber jungen Menschen kontrollieren und bewusst gestalten, anstatt aus allem eine Show zu machen. Andererseits spiegele das Verhalten der Jurymitglieder das Leistungsprinzip der Gesellschaft und solle von Jugendlichen als eine Art „Schule fürs Leben“ angesehen werden: nur mit Begabung und harter Arbeit kann man „Superstar“ werden bzw. Erfolg haben (ebd., S. 13-14).

 

Einfluss von Castingshows auf Jugendliche

 

Junge Menschen reagieren besonders empfindlich auf Informationen, die von außen kommen. Besonders in der Phase der Jugend, der Adoleszenz, die von der späten Kindheit über die Pubertät bis zum vollen Erwachsensein reicht, wird dies sichtbar. Diese Informationen wirken in Form verschiedenen Rollen (Behrt, J. 2007, S. 94) auf sie ein und sind Wegweiser für die Entwicklung der eigenen Ich-Identität. Unter diesen Umständen sind Castingshows für junge Menschen eine willkommene und einflussreiche Abwechslung. Genau hier finden Jugendliche nicht nur Beispiele für den eigenen Identitätsaufbau, sondern sie lernen überdies, reflexiv – durch das Zuschauen auf Fremdentwicklung – mitzudenken, was gut vs. schlecht, brauchbar vs. nutzlos, wertvoll vs. sinnlos für den eigenen Identitätsaufbau ist.

 

Einfluss auf die Identitätsentwicklung

 

Die Identitätsentwicklung beim Menschen basiert auf zwei Prozessen: Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung. Selbsterkenntnis ist eine Art, sich selbst zu reflektieren. Dazu gehören auch Selbstkritik und Beurteilung des eigenen Ich. Wie der Mensch sich selbst objektiv sieht, so reagiert er im Leben. Das heißt, der Mensch neigt gemäß dieser Fähigkeiten (sich selbst zu sehen) entweder zur Über- oder Unterschätzung seines Selbst, was wiederum Einfluss auf die komplette Lebens- und Selbstgestaltung hat. Selbstgestaltung setzt dementsprechend die Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis voraus und hat etwas mit Selbstverbesserung zu tun. Sich zu verändern und sich selbst zu gestalten ist ein ausgeprägter Wunsch junger Menschen. Dabei spielt die persönliche und soziale Identität eine bedeutende Rolle. Die persönliche Identität bildet den lebensgeschichtlichen Zusammenhang der Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat, und die soziale Identität entsteht aus dem Bild, das die anderen sich von einem machen (Oerter, R./Dreher, E. 2002, S. 290-291).

 

In Bezug auf DSDS hat die obere Definition einen Sinn, weil in der Castingshow jeder Teilnehmer aufgefordert wird aus eigener Initiative heraus sich selbst so zu formen, dass am Ende ein Einklang entsteht zwischen „wie sehe ich mich“ (persönliche Identität) und „wie sehen mich die anderen“ (soziale Identität). Anhand der Rückmeldungen von außen wird das eigene Ich-Bild konstruiert oder korrigiert. Durch diesen Prozess erlangt man ein Verständnis von der eigenen Identität: „Wer bin ich?“ „Das bin ich!“ (Theunert, H. 2009, S. 53). Deshalb wird aus der Perspektive junger Teilnehmer und Zuschauer die Castingshow oft als „Experimentschule“ bezeichnet.

 

Es ist notwendig, dass jeder Jugendliche, der sich bewusst für eine Karriere durch Castingshows entscheidet, sich fragt: Wer bin ich und was kann ich? Es wird z. B. bei DSDS erwartet, dass junge Menschen über eine gewisse Selbsterkenntnis über das eigene Ich und ihr eigenes Talent verfügen. Im Idealfall sollten diese zwei Elemente miteinander harmonieren. Unter- oder Überschätzung des eigenen Ich und des vorhandenen Talents führen ggf. zu Enttäuschungen. Für junge Menschen, die sich bei der Castingshow bewerben und nicht verstehen, wie die Sendung funktioniert, endet die Karriere, bevor sie angefangen hat, mit bitteren Erfahrungen und womöglich mit Selbstbildstörungen bzw. Identitätsumbruch (Pörksen, B./Krischke, W. 2012). Auch die Fragen nach Absicht und Möglichkeit sowie Pflicht und Bedürfnis sollten geklärt werden. Wichtig ist, dass die Absichten mit den Möglichkeiten sowie die Bedürfnisse mit den Pflichten korrelieren. Wenn die Antworten auf die Fragen „Was will ich?“ (Absichten) und „Was darf ich?“ (Möglichkeiten) nicht im Einklang stehen, ist es auch schwierig, diese Elemente im eigenen Selbstkonzept zu platzieren. In dem Fall liegt eine „Suche“ vor, ohne zu wissen, was man konkret sucht und finden muss. Auch Pflichten und Bedürfnisse sollen im Idealfall zueinanderpassen. Ein junger Mensch, der bei der Castingshow DSDS mitmachen will, sollte sich bewusst sein, dass es in diesem Format nicht nur um die Frage geht „Was brauche ich?“, sondern auch um die Frage „Was muss ich tun?“. Jede Teilnahme ist an bestimmte Pflichten gebunden. Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Pflichten und Reaktionen darauf wirken auf die Identitätsbildung, was wiederum zu einer gesunden oder ungesunden Identitätsentwicklung führen kann. Das Leben in Szenen bietet Jugendlichen die Möglichkeit, mit Gleichgesinnten eigene Konzepte für ihre Selbstverwirklichungs- und Lebenschancen – und damit auch für eine persönliche Identität – zu entwickeln (Theunert, H. 2009, S. 36). Hier stehen DSDS-Teilnehmer vor einer besonderen Aufgabe: Identitätsentwicklung im Sinne der selbst gewünschten Perspektive (z. B. „Ich will so sein wie ...!“) und Identitätsentwicklung im Sinne der vorgegebenen Inszenierung („Ich muss so sein wie ...!“). In diesem Kontext wird deutlich, dass Identität kein Fertigprodukt ist, sondern ein Prozess, der von außen nach innen reguliert wird und das ganze Leben durchzieht. Die Heranwachsenden greifen herbei selektiv auf die ihnen angebotenen Materialien zurück. Sie suchen diese medialen Materialien selbst oder werden darauf von der Gleichaltrigengruppe hingewiesen (Schorb, B. 2006). Problematisch können die medialen Lernmaterialien werden, wenn die Darstellung der Castingshows als Abbildung der Realität verstanden wird (Stiletto, S. 2011). Deshalb brauchen Kinder und Jugendliche nicht nur häuslich-erzieherische, sondern auch schulpädagogische Begleitung auf dem Wege zum Erwerb einer wichtigen Fähigkeit: Medienkompetenz…

 

Einfluss auf die Moralentwicklung

 

Wie bereits erwähnt, haben Castingshows einen zweiseitigen Einfluss. Deshalb werden der Jury – als Vorbildfunktion – oft „unmoralische Kommentare“ und provokatives Verhalten gegenüber Jugendlichen vorgeworfen. Jurymitglieder fungieren hier als Vorbilder und sollten sich dementsprechend verhalten. Da die Moralentwicklung ein Teil der Sozialisation und somit eng mit der Identitätsentwicklung verbunden ist, sollte die Einflussnahme in ihren Konsequenzen berücksichtigt werden.

 

Die Menschen haben ein Sensorium für Moral (Horster, D. 2007, S. 7). Moralisches Verhalten entwickelt sich bereits im kindlichen Alter und wirkt auf die gesamte Identitätsentwicklung…

  

Die moralischen Regeln, wenn sie angewendet werden, schützen die Menschen vor dem Handeln anderer (ebd., S. 8). Hier ist ein Maßstab gemeint, der zum Wohl aller Beteiligten beiträgt. Moralentwicklung ist ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Daseins. In Bezug auf die Castingshows ist Moralentwicklung eine Art Beziehung zwischen Kognition und Emotion (ebd., S. 17). Kognition umfasst Erkenntnis und die Verarbeitung der Informationsflut. Emotion meint das Gefühlsleben bzw. die individuelle Wahrnehmung und daraus resultierendes Verhalten. Die Beziehung zwischen Kognition und Emotion ist wesentlich, da jeder Mensch eigene Erregungs- und Erfahrungskapazitäten hat. Besonders Jugendliche – als noch instabile Persönlichkeiten – sind äußerst sensibel, was Emotion und Kognition angeht. Sie lernen noch, moralische Gefühle zu beherrschen und zu stabilisieren.

 

Durch zweideutige Bemerkungen und respektloses Verhalten der Jury gegenüber ihren Schützlingen wird ein Gefühl der Unmoral geweckt. Besonders negativ sind Bohlens Sprüche, die einerseits für Show und Unterhaltung sorgen und andererseits menschenverächtlich und respektlos sind. Somit sind auch die Zuschauer betroffen von unmoralischer „Erziehung“ durch das Medium Fernsehen. Alles, was im Fernsehen gezeigt wird, geht sofort durch den Kopf und wird individuell je nach moralischer Vorerfahrung und Erziehung verinnerlicht. Das lässt sich durch zahlreiche Beobachtungen auf dem Schulhof bestätigen. Junge Menschen verhalten sich genauso, wie es Erwachsene – in diesem Fall die Jury – tun. Laut Kohlbergs Theorie liegt hier die Gelegenheit zur Perspektivenübernahme (ebd., S. 40-41), wo Kinder und Jugendliche übernehmen gern vorgegebene Verhaltensmuster. Spaß auf Kosten der anderen ist seit der Ausstrahlung der DSDS-Sendung formal gestiegen (Hajok, D./Selg, O. 2012). Von daher ist es entscheidend, dass man gerade in dieser Lebensspanne guten Vorbildern begegnet und sich selbst in moralischer Hinsicht gesund und stabil entwickelt.

 

Einfluss auf Vorstellungen, Werte- und Verhaltensorientierungen

 

Die Nutzung von Medienangeboten erzeugt nicht nur Gefühlsregungen – die für stabile Emotionen und letztendlich für die Identitätsentwicklung eine wichtige Rolle spielen –, sondern auch Vorstellungen zu bestimmten Sachverhalten (u. a. Tulodziecki, G. 2012). Eine Vorstellung ist ein „Gedankenspiel“, das als Erinnerung an die Vergangenheit, als Erwartung an die Zukunft oder als abstrakte, bildhafte, nicht auf Zeit bezogene Idee vorkommen kann. So können Medien positive oder negative, richtige oder falsche Vorstellungen hervorrufen. Wie diese Information von Jugendlichen aufgenommen und verarbeitet wird, hängt zunächst mit der eigenen, individuellen Lebenswelt zusammen. Wenn ein Jugendlicher bereits Erfahrung im Showbusiness hat, wird er Castingshows und daran geknüpfte Informationen anders aufnehmen als ein Jugendlicher, der noch nie auf einer Bühne gestanden hat. Die Informationsaufnahme erfolgt gemäß zweier Prinzipien: a) Informationen, die den eigenen Einstellungen entsprechen, werden wahrgenommen, b) Informationen, die der eigenen Einstellung widersprechen, werden vermieden (u. a. Tulodziecki, G. 2012). Das heißt, Ausformungen eigener Vorstellungen sind eng an Vorerfahrungen geknüpft. 

 

Dasselbe geschieht auch in der Entwicklung von Werteorientierungen, was aus bildungswissenschaftlicher Sicht der Moralentwicklung zugeordnet werden kann. Gleichgültig, auf welche Bereiche sie sich beziehen, haben Werteorientierungen immer etwas mit gut oder böse, richtig oder falsch, Recht oder Unrecht zu tun. Auf Grund der Bedeutung der Medien in der Lebenswelt von Jugendlichen werden durch Medienangebote bestimmte Werteorientierungen nahegelegt. Bezogen auf Castingshows sind diese folgender Natur: materielle Werte (wenn man gewinnt, wird man erfolgreich und reich/man besitzt viel Geld und Luxus-Güter); hedonistische Werte (durch die Teilnahme wird man bekannt, berühmt und evtl. beliebt/man reist und erlebt viel); idealistische Werte (eigene Talente weiterentwickeln/sich selbst verwirklichen) (ebd., S. 127). Besonders materielle und hedonistische Werte spielen in der Entwicklung der Jugendlichen eine maßgebliche Rolle. Daraus, was man hat oder nicht hat, entwickeln sich ein Selbstbild und das Verhalten. Junge Talente, die von Show zu Show sich selbst entwickeln müssen bzw. sich selbst suchen und finden sollen, aber auch junge Zuschauer zu Hause vor dem Fernseher, stehen unter ständigem Änderungseinfluss. Sie sind mit verschiedenen Verhaltenssituationen konfrontiert, die ihr eigenes Verhalten positiv oder negativ beeinflussen können. Zu diesen Situationen können zum Beispiel traumatische Erfahrungen oder auch Erfolg bzw. Misserfolg zählen. Somit sind die mit Prominenten besetzten Jurys für junge Teilnehmer und Zuschauer ein wichtiges und beobachtetes Inszenierungselement von Castingshows.

 

Castingshows als Risiko

 

Es wird klar, dass sich hinter Castingshows viele Gefahren für die Identitätsentwicklung Jugendlicher verbergen. Nicht nur direkt negative Erfahrungen machen den Jugendlichen das Leben schwer, auch positive Erfahrungen können nach dem Ende der Show zu einer Störung des Verhaltens führen und eigenen Selbstwertgefühl beeinflussen. Am Beispiel der DSDS-Castingshow wird dieser Zusammenhang deutlich ersichtlich. Auf den ersten Blick erfolgreiche Gewinner können bereits nach kurzer Zeit als Verlieren dastehen und mit Arbeitslosigkeit (wenn man nicht mehr als „Star“ gefeiert und gebucht wird), Selbstschätzungsverslust (wenn das eigene Talent nicht mehr so angesehen wird, wie in der Show) und Identitätsstörung (wenn das eigene „Selbst“ ins Wanken gerät), kämpfen. Das trifft meistens Jugendliche, die bereits vor der Castingteilnahme erhebliche Probleme mit sich selbst haben. Wenn sie noch keine eindeutigen Vorstellungen über die Außen- und Innenwelt entwickelt haben und Zweifel an der eigenen Person hegen, können die Teilnahme an einem Casting sowie das Anschauen solcher Sendungen zu negativen Identitätsentwicklungen führen.

 

Castingshows und bedürfnistheoretische Analyse ihrer Bedeutung für Jugendliche in Anlehnung an Maslow

 

Nun ergibt sich die Frage, welche Bedürfnisse sich hinter dem regen Interesse und der Beteiligung an Castingshows verbergen und ob diese Bedürfnisse tatsächlich durch die Teilnahme gestillt werden können. In Anlehnung an Maslow wird der Mensch in seinem Verhalten von hierarchisch strukturierten Bedürfnissen geleitet...

 

Maslow unterteilt menschliche Bedürfnisse in fünf Kategorien. Diese lassen sich als Pyramide darstellen, an deren Basis sich die grundlegenden körperlichen Bedürfnisse befinden, während an der Spitze das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung steht, das aber erst dann verwirklicht werden kann, wenn alle grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt worden sind. Diese Selbstverwirklichung basiert auf einem persönlichen Wachstum durch die Erfüllung eines Lebensauftrags, der in der Entfaltung der eigenen Kreativität liegen kann (http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MOTIVATION/Beduerfnisse.shtml 29.07.2013). Somit dient die Castingshow als Material für Identitätsarbeit (Theunert, H. 2009, S. 81), die gleichzeitig auch Wachstumsbedürfnisse befriedigen können. Zu den Wachstumsbedürfnissen – im Maslow’schen Sinne – gehören: Ich-Bedürfnisse und Selbstverwirklichungsbedürfnisse. Hier ist Befriedigung dieser Bedürfnisse und somit die Erreichung einer bestimmten Identität als Zustand und Ziel des menschlichen Daseins gefasst (ebd.). Diese verschiedenen Bedürfnisse sind dem Menschen nicht immer bewusst (Maslow, A. 2010, S. 82), sondern sind eher unbewusst in der persönlichen Entwicklung und in der Bewegung hin zur Selbstverwirklichung verankert (ebd., S. 93). 

 

Bedürfnis nach Aufmerksamkeit

 

Aufmerksamkeit stellt einen medien-gesellschaftlichen Wert dar. Besonders in der Musikindustrie ist das Erreichen der Aufmerksamkeit ein zentrales und entscheidendes Ziel. So sind viele Jugendliche bemüht durch ungewöhnliches Auftreten in Presse und Fernsehen sich „unvergesslich“ zu machen. Viele junge Künstler nutzen dazu provokantes Auftreten, provozieren Skandale oder erzählen wahre und fiktive Lebensgeschichten. Dieses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit stellt nicht nur eine Bedingung des Castings dar, sondern hängt auch maßgeblich mit der Selbstbestätigung zusammen. Man will sich ins Zentrum stellen, Aufmerksamkeit auf sich ziehen und letztendlich diese genießen. Je mehr Jugendlichen eine Befriedigung der Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit in „außermedialen“ Lebenssituationen versagt bleibt, desto stärker wird dieses Bedürfnis u. a. an die Medien herantragen (u. a. Tulodziecki, G. 2012, S. 26). Bester Beweis dafür ist der Kandidat der DSDS-Castingshow Menderes Bagci, der als untalentierter und gescheiterter Teilnehmer galt und unbedingt das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit stillen wollte, indem er sich bei DSDS immer wieder beworben hat. Trotzt gescheiterter Versuche ist er inzwischen bekannt geworden und hat in regelmäßigen Abständen neue Arbeitsanfragen und Jobs. Das heißt, selbst durch – auf den ersten Blick – negative Aufmerksamkeit kann man in der Identitätsentwicklung wachsen und sich weiterentwickeln. Deshalb weisen das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und das nach Erfolg einen engen Bezug auf und gehören beide zu den Unterkategorie der Ich-Bedürfnisse.

 

Bedürfnis nach Erfolg

 

Allgemeingesehen sind Castingshows extrem ich-bezogen, jeder Teilnehmer steht für sich alleine ein und muss sich behaupten. Somit spricht man an dieser Stelle von Individualbedürfnissen bzw. Ich-Bedürfnissen. Diese Ich-Bedürfnisse unterteilt Maslow in zwei Unterkategorien: Wunsch nach (mentaler/körperlicher) Stärke, Erfolg, Unabhängigkeit und Freiheit und Wunsch nach (passiver/aktiver) Wichtigkeit, Ansehen, Prestige, Wertschätzung und Achtung (Maslow, A. http://www.artikel32.com/sonstige/1/bedrfnisstruktur-und-selbstverwirklichung-a-maslow.php 04.08.2013). Erfolg oder Misserfolg hat direkten Einfluss auf jugendliches Empfinden. So kann z. B. ein Castingteilnehmer sich besser entwickeln und selbstbewusster auftreten, wenn er bereits von Anfang an gewisse „Erfolgsgefühle“ außerhalb der Medienwelt erfahren hat – etwa in der Schule oder in der Familie. Dieses positive Erfolgserlebnis ist ein wertvoller Erfahrungsbegleiter durch Höhen und Tiefen der Castingshow und hat Einfluss auf die persönliche sowie musikalische Entwicklung und letztendlich auf den Erfolg als Ergebnisziel.

 

Folglich ist festzuhalten: Castingshows können bestimmte Bedürfnisse wecken und gleichzeitig stillen. Dadurch nähert man sich der höchsten Stufe der Maslow’schen Bedürfnispyramide: dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Obwohl Selbstverwirklichung erst bei den Menschen mittleren Alters möglich ist – da die Jugendlichen noch keine Identität und Autonomie erreicht haben und auch keine Zeit gehabt haben, Erfahrungen zu sammeln, um eine bestimmte Lebensrichtung zu entwickeln – gewährt die Castingshow eine erste Möglichkeit, sich selbst kreativ, musikalisch bzw. künstlerisch zu verwirklichen oder zumindest auszuprobieren, ob das behauptete Talent ausreichend ist. Bestes Beispiel dafür ist die Entwicklung des DSDS-Teilnehmers Daniel Küblböck – heute ein deutscher Sänger und Unternehmer.

 

Bedürfnis nach Selbstverwirklichung

 

Für die Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung ist es entscheidend, wie eine Person sich dabei fühlt. Maslow verwendet in diesem Kontext noch weitere Begriffe: „growth motivation“ - die Motivation, sich zu entwickeln, oder „being needs“ - Bedürfnisse des Seins. Diese Begriffe beinhalten das fortwährende Bedürfnis, die eigenen Potenziale auszuschöpfen, „alles zu sein, was man sein kann“ bzw. „sie selbst zu werden“ – daher der Begriff der Selbstverwirklichung (Boeree, G. 2006, S. 7). Folgt man Maslows Theorie, müssen zuerst die Defizitbedürfnisse weitgehend abgedeckt sein, um der Selbstverwirklichung näherzukommen. Falls Grundbedürfnisse nicht gestillt werden, kann man sich nicht darauf konzentrieren, weitere persönliche und kreative Potenziale auszuschöpfen (ebd.).

 

Seit vielen Jahren wird untersucht, was sich selbst verwirklichende Menschen von anderen abgrenzt. In erste Linie handelt es sich um Menschen, die wirklichkeitszentriert und problemzentriert sind (ebd.). Diese Menschen haben die ungewöhnliche Begabung, das Unrechte, Falsche und Unehrliche einer Persönlichkeit oder einer Situation zu registrieren und Menschen und Situationen richtig und erfolgreich zu beurteilen (Maslow, A. 2010, S. 183). Diese Fähigkeit erstreckt sich auch auf andere Lebensbereiche. In Kunst und Musik, in intellektuellen Angelegenheiten, in wissenschaftlichen Fragen, in der Politik und im öffentlichen Leben scheinen sie im Stande zu sein, die Realität rascher und objektiver zu erfassen als andere (ebd.). Sich selbst verwirklichende Menschen haben eine andere Wahrnehmung von Mittel und Zweck und sind der Auffassung, dass der Zweck nicht immer die Mittel heiligt, dass Mittel selbst Ziele sein können und dass die Mittel, d. h. der Weg, oftmals wichtiger sind als die Ziele (Boeree, G. 2006, S. 8). Zusätzlich sind diese Menschen kreativ und originell. Sie sind nicht perfekt (ebd.), aber sie haben einen ausgeprägten Sinn für ihr Selbst und das Sein. Aus dieser theoretischen Perspektive können Castingshows zur Selbstverwirklichung beitragen und somit als Chance angesehen werden.

 

Castingshows als Chance

 

Jugendliche, die Castingshows im Fernesehen anschauen oder selbst zu Castingteilnehmern werden, können sich durch die gemachten Erfahrungen bilden, indem sie sich Wissen aneignen, Handlungen erlernen, Grenzen austesten und ihre eigene Identitätsentwicklung reflektieren bzw. thematisieren (Marotzki, W./Jörissen, B. 2009, S. 60-70). Durch diese Bildungsvorgänge entwickelt man konkretere Vorstellungen und kann deutlich zwischen Inszenierung und Realität des eigenen Selbst unterscheiden (ebd., S. 72). Castingshows als Chance für die eigene Selbstverwirklichung sind eine Herausforderung, die nicht alle Jugendlichen bewältigen können. Entscheidend sind Momente, die selbst-befördernd und selbstunterstützend sind (u. a.Götz, M. 2013, S. 101). Unabhängig davon, wie weit die DSDS-Teilnehmer in der Castingshow gekommen sind, in welchem Maße sie zu öffentlichen Personen wurden, müssen sie sich nach diesem besonderen Ereignis in ihrem Alltag neu verorten, die Erfahrungen verarbeiten und die Erlebnisse in ihr Selbstbild integrieren. Dies birgt Risiken, aber auch Wachstumspotenzial. Wie die gesammelten Erfahrungen verarbeitet werden, entscheidet sich alleine anhand der individuellen Möglichkeiten, Erlebtes wahrzunehmen und zu reflektieren…

 

Im Rückblick wird deutlich, dass Jugendliche im 21. Jahrhundert in einer mediengeprägten Gesellschaft leben und durch mediale Angebote wie nie zuvor beeinflusst werden…

 

Diese mediale Angebote haben eine unterstützende Funktion in der Identitätsarbeit (Schrob, B. 2006) und können für viele Jugendliche – Teilnehmer sowie Zuschauer - zur traumhaften Lebenserfahrungen (Chance) oder zum traumatischen Lebensereignis (Risiko) werden. Darüber hinaus wird auch klar, dass Castingshows die bestimmte Bedürfnisse (u.a. Bedürfnis nach Aufmerksamkeit) wecken und stillen können. In welche Richtung der Einfluss von Casting einhergehen wird, hängt letztendlich von Medienkompetenz der Jugendlichen ab...

 


Widmer® 

Auszug aus der Forschungsarbeit:

"Castingshows, Jugend und Medienkompetenz"

© Vera Widmer, 2013, Hagen

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